Oder eine Reise in die Unmöglichkeit
Leider
haben wir sie verpasst, die Champagnerdünnschnabelgrasmücke! Sie
entsprang aber auch nur der Fantasie einer uns wohlgesonnenen jungen
Frau. Doch gerne hätte ich so eine Neuentdeckung gemacht unter diesen
Jahrtausende alten Riten, der dort in Frankreich am Lac du Der
rastenden Vögel.
Dort
in der Nähe von Saint Dizier gibt es eine groß angelegte
Seenlandschaft, zu der zigtausende von Vögeln jedes Jahr auf ihrem Zug
in den Süden pilgern. Fast möchte ich sagen, dass es dort gefühlt kaum
weniger Beobachter gibt, die diesen Rastplatz bevölkern. Doch diese
Menge, ja Massen an Tieren, ist unüberschaubar, während die Ornis noch
gerade zu zählen wären. Nur, für die interessiert sich keiner!
Horst
war bereits einen Tag früher angereist und hatte uns „a g’mähts Wiesle“
präsentiert: Er wusste wohin und auch wann. Denn tagsüber tut sich für
dortige Verhältnisse wenig.
So
führte er uns vom Damm des Lac du Der weiter weg zum Etang de Grand
Coulon und dem Etang de la Forêt. Dort empfingen uns erst mal dutzende
Exemplare von leuchtend roten Fliegenpilzen, die den Weg zum Unterstand
am See säumten. Von dort hatte man durch kleine Öffnungen einen
direkten Ausblick auf die Wasserfläche, auf der Lachmöwen und Krick-,
Stock-, Spieß-, Tafel-, Reiher- und Pfeifenten schwammen. Silberreiher
standen am Ufer und ein Eisvogel hing am Schilf. Horst bemerkte zuvor
eine rufende Wasserralle, die wir auf dem Rückweg auch noch
„quietschen“ hörten.
Es
gab natürlich auch Rotkehlchen, Rabenkrähen und einen Gartenbaumläufer,
um auch mal diese mir gut bekannten Arten zu nennen. Und klar,
Graureiher und Silberreiher, Graugänse und Großer Brachvogel,
Feldsperlinge und Stare waren auch spannende Objekte des Betrachtens.
Aber morgens und abends zur richtigen Zeit am richtigen Platz zu stehen, ist entscheidend für den Erfolg einer Beobachtung.
Na, da habe ich kräftig untertrieben! Es war keine Beobachtung! Es war ein ungläubiges Staunen, das in eine unbeschreibliche Verwunderung und Begeisterung übergeht, wenn an der Site de Chantecoq gegen 16 Uhr tausende von Kranichen, Kormoranen und Kiebitzen in dieses Gebiet einfallen. Auch falsch, denn ein Kranich fällt nicht ein, er gleitet zart und sanft wie ein Airbus in die Brachfläche und landet elegant auf seinen langen Beinen.
In
einzelnen Scharen zu – sagen wir mal – 200 bis 600 Tieren flogen die
Kraniche heran und verteilten sich dort, auch auf den umgebenden
Wiesen. Vorher haben sie von den abgeernteten Maisfeldern die
übriggebliebenen Körner verspeist, und wenn sie nichts mehr finden,
ziehen sie weiter ins Winterlager nach Spanien in die Extremadura.
Es
war erstaunlich zu sehen, wie diese Trupps – meist in Keilform – nach
und nach am Horizont erschienen und sich dort im Gebiet niederließen.
Es hörte gar nicht auf, auch als der Himmel immer dunkler wurde. Und
wenn es keine Kraniche sind, dann kommen Graugänse, Kormorane und
Kiebitze. Und alle haben Platz! Erst als sich die Nacht über das Gebiet
senkte, wurde es stiller. Nur noch das Stromaggregat der Pommesbude
tuckerte vor sich hin.
Nachdem
sich die schwarze Strickmütze komplett über das Gebiet gestülpt hatte,
fuhren wir zum Speisekartenraten in ein Lokal nach Saint Dizier. Ich
denke, dass alle mit dem Tag und dem Abendessen zufrieden waren und in
Gedanken ein wenig fliegend einschliefen.
Stille?
Oh nein, davon konnte am anderen Morgen kurz vor sieben Uhr nicht die
Rede sein! Nicht, weil wir noch müde im Bus saßen, nö, wir hatten uns
viel zu erzählen.
Doch
beim Aussteigen (und bei 6 °C) waren bereits die ersten Kraniche wieder
in der Luft, in ihren Formationen in unendlicher Länge, mit zahllosen
Teilnehmern und mit ohrenungewohntem Gekreische. Doch das, meinte
Horst, gehört zum Kranichzug. Der Aufstieg geschah nach irgend einem
geheimen Kommando und die mir ungewohnten, vibrierenden Schreie (Axel:
„Das Magenknurren der Kraniche“), die mir im Laufe der morgendlichen
Beobachtung immer angenehmer erschallten, passten irgendwie zur
Aufbruchstimmung.
So
verließen nach und nach die Kraniche, Kormorane und Kiebitze das
Gebiet, teils zum Frühstücken und abendlichem Wiederkommen, teils zum
Zug in den Süden. An und in den Teichen blieben Löffelenten,
Graureiher, Große Brachvögel, Stockenten, Gänsesäger, Silberreiher und
Graugänse zurück. Krickenten, Gänsesäger, Haubentaucher, Lachmöwen und
Höckerschwäne u.a. standen auch noch herum. Manche regungslos, als
schliefen sie noch, andere kräftig mit dem Schnabel im Schlick
stochernd, futternd.
Husch!
machten die Stare auf dem Kreuz des Kirchturms, denn ein Turmfalke ließ
sie fliehen. Tschilp! riefen die Feldsperlinge in den Büschen ringsum
und (na ja, „wuseln“ kann man nun schlecht lautmalerisch umsetzen)
Stieglitze, Bachstelzen, Hänflinge und Buchfinken suchten am Ufer im
niedrigen Bewuchs nach Nahrung, völlig unbeeindruckt durch unsere
Anwesenheit.
Auch
eine sonderbare Stimmung: Nach eineinhalb Stunden waren die Zieher alle
weg, die Felder fast leer und Ruhe verbreitete sich, eine nun
ungewohnte Stille. Die Augen und Ohren hatten fast nichts mehr zu tun.
Fast.
Am 19. und 20.11.2011 waren dabei: Andrea und Reinhard, Doris, Gabi, Hannelore und Axel, Horst, Rainer, Werner und ich, der
William
P.S.: Zählung der Europäischen Dokumentenstelle am 20.11.2011: 38.200 Kraniche!!!
Genaue Artenliste über www.naturgucker.de, dort „Lac du Der“.
21.11.2011